>
>
Gedicht drucken


Nach Hause kommen

6:30 Uhr: Der Wecker läutet. Meine Reiseasche ist, wie fast immer, noch nicht gepackt. Bevor es auf die Reise geht, muss ich zum Fäden ziehen – vor neun Tagen wurde ich am Knie operiert. Eveline, die liebe Sprechstundenhilfe, die ich fast mein ganzes Leben lang kenne, ist geschockt, als sie vom Tod meines Vaters erfährt. Sie ist sichtlich gerührt, dass meine Mutter, die seit 13 Jahren von meinem Vater geschieden ist, uns auf die Beerdigung begleitet. Mein Vater möchte in seiner Geburtsstadt Gafsa in Tunesien neben seiner Mutter beerdigt werden. Auf dieser letzten Reise werden meine Mutter, mein Bruder Rahim, mein Sohn Niklas und ich ihn begleiten.

10:40 Uhr: Meine Tasche ist nun bereit, und es klingelt an der Tür. Meine Mutter und mein Bruder sind eingetroffen, und die Reise beginnt.

Dieses Mal fühlt sich der Flug nach Tunis anders an, durchzogen von einem schweren und traurigen Gefühl. Wie oft sind wir als Kinder mit meinem Vater in seine Heimat geflogen, haben uns auf den Sommer am Meer und das Wiedersehen mit der Familie in Gafsa gefreut. Doch diesmal ist es nicht Sommer, sondern der 22. November, und mein Vater sitzt nicht neben uns, sondern ruht im kalten Frachtraum – für immer schlafend in einem Sarg.

Das Boarding verläuft reibungslos, alle Passagiere nehmen ihre Plätze ein und hoffen, ebenso wie meine Cousins, die bereits eine sechsstündige Autofahrt hinter sich haben, dass das Flugzeug pünktlich startet. Doch dem ist nicht so. Offenbar stimmt die Anzahl der Koffer nicht. Die Crew muss nun Passagier für Passagier danach fragen, wie viele Koffer sie aufgegeben haben. Das Ergebnis: Die Inventur war nicht erfolgreich. Es ist mittlerweile 18:15 Uhr. Weitere Minuten vergehen, und wir sehen aus den kleinen Fenstern, wie alle Koffer aus dem Flugzeug genommen und ordentlich auf dem Rollfeld aufgestellt werden. Ein großes Fragezeichen taucht vor unserem inneren Auge auf. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Die Passagiere werden gebeten, ihre Koffer zu identifizieren. Leider ist auch nach dieser Aktion das Ergebnis unbefriedigend: Ein einsamer Koffer steht noch da, dafür fehlt ein anderer. Welche Lösung dafür gefunden wurde, entzieht sich meiner Kenntnis, aber um 19:55 Uhr (eigentlich hätten wir um 19:40 Uhr landen sollen) hoben wir endlich ab.

21:43 Uhr: Touch-Ground. Mit einer Verspätung von über zwei Stunden kommen wir endlich in Tunis an, wo uns meine Cousins herzlich empfangen. Die Freude des Wiedersehens ist groß, auch wenn sie von unendlicher Traurigkeit überschattet wird, da wir nun meinen Papa für seine letzte Heimfahrt abholen müssen.

Ein Krankenwagen steht bereit, um meinen Vater in Empfang zu nehmen.

23:45 Uhr: Der Wagen fährt mit still leuchtendem Blaulicht vor uns her. Wer schon einmal in Tunesien war, weiß, dass es zwischen den Ortschaften oft sehr karg sein kann. Wüstenähnliche Landschaften mit Palmen, Bäumen, Kakteen, vereinzelten Häusern und den Bergen im Hintergrund prägen die Szenerie.

Wir waren etwa eine Stunde unterwegs. Meine Mutter unterhielt sich angeregt mit meinem Cousin. Sie nach mehr als 13 Jahren wieder Arabisch sprechen zu hören, berührte mich sehr und ließ viele schöne Kindheitserinnerungen aufleben. Während ich in meinen Gedanken versunken war, hüllte sich der Krankenwagen vor uns plötzlich in eine große, stinkende Rauchwolke – Motorschaden.

Natürlich passierte das Ganze in einem Abschnitt weit entfernt von der nächsten Ortschaft. Nun standen wir hier. Abseits der Zivilisation, unter dem schönen Sternenhimmel, in einer klaren, aber eiskalten Nacht, mit meinem Papa, der nach Hause wollte.

2:15 Uhr: Endlich ist der Ersatzkrankenwagen da. Mein Vater wird erneut verlegt (das beklemmende Gefühl, das ich in diesem Moment hatte, ist schwer zu beschreiben, aber ich werde es wohl nie vergessen). Der Konvoi konnte weiterfahren.

6:50 Uhr: Ohne auch nur eine Minute geschlafen zu haben, kommen wir in Gafsa an. Meine herzallerliebste Cousine, die uns zu sich eingeladen hatte, empfängt uns emotional gerührt, nimmt uns in die Arme und möchte uns am liebsten nie mehr loslassen.
Avatar Kein Bild

Geschrieben von Bellaid1 [Profil] am 07.05.2024

Aus der Kategorie Traueranlässe



Logo Creative Commons
Dieses Werk ist durch die Creative Commons Lizens geschützt. Bitte bachte die Rechte

Dieses Gedicht oder ein Kommentar enthält anstößige Wörter oder Beleidigungen?

Tags (Schlagwörter):

Weg, letzter

Bewertungen

0 Punkte
Punkte: 0 bei 0 Bewertungen. Das Entspricht im Durchschnitt 0 Punkte
(Punkte können mit einem neuen Kommentar vergeben werden.)

Anzahl Aufrufe: 242


Dieses Gedicht teilen


Kommentare und Punkte zu diesem Gedicht

Es sind noch keine Kommentare vorhanden. Bitte schreibe dem Autor wie du den Text findest

Kommentar schreiben und Punkte vergeben

Bitte melde dich ganz oben auf der Seite an um einen Kommentar zu schreiben und Bewertungen zu vergeben

Andere Gedichte von Bellaid1

Ueberleben

Die beliebtesten Gedichte:

Unausweichlich Tod
Kraniche
Im Regen
Verwirrte Worte
Wer Sehnsucht kennt...
Fluch(t) der Träume
Still und bescheiden
Panthers letztes Schriftstück
Der Mittag
Am Abend danach

Die neusten Gedichte:

Zum Nu
Zu unterschiedlich
Jeder Mensch
Von Herz zum Kopf
Auch das noch...
Es werde Licht
Hoffnung
Der Sonne letzte Strahlen
Novembertage
Für dich...

Oft gelesene Gedichte:

Ich liebe Dich mein Schatz
Danke an unsern Lehrer!!
An meine liebe Frau
Was ich meinen Kindern immer mal sagen wollte...
Für meine Schwester
Für meinen Schatz
Ich Denke an Dich...
Hab Dich Lieb Mama
Für mein Schatz
Meine Oma