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Entscheidung im Schatten des K2

Hinweis für den Leser: Inspiriert von einigen Bertolt Brecht Geschichten, hat diese hier zwei Enden.
Sie sollen darüber nachdenken lassen, wie wir entschieden hätten.
Für Kritik und Kommentare bin ich wie immer dankbar.

 

Der Anfang

 

Steve Palmer stand in seinem Keller und sein Blick wanderte über die vielen Gegenstände vor ihm. Diese waren in kleine Gruppen aufgeteilt und lagen in loser Ordnung auf Tisch, Boden und Gästebett.

Er schwitzte leicht, denn in diesem Frühjahr 1983 war es in den Rocky Mountains schon früh warm geworden. Doch die Dinge vor ihm erinnerten ihn daran, dass es bald kälter für ihn werden würde. Sehr viel kälter.

 

Sorgsam prüfte er die einzelnen Gruppen auf Vollständigkeit. Es gab Dinge die ihn vor der Kälte schützen würden. Für die Füße Treckingschuhe, steigeisenfeste Bergstiefel und zwei Paar dicke Funktionssocken. Für die Beine lange Berghosen, eine Goretexüberhose und Funktionsunterhosen. Noch wichtiger war der Schutz der Hände. Doch auch hier hatte er vorgesorgt. Es gab Unterziehhandschuhe vom Typ Merino, Fleece Innenhandschuhe, Goretex Handschuhe und für ganz extreme Bedingungen Fäustlinge aus Daunen.

Er wusste, dass die Gänse dafür ziemlich leiden mussten, aber seine Hände waren ihm zu wichtig, um auf diesen Schutz zu verzichten.

 

Während Steve anfing die Sachen systematisch in seinen 90 Liter Rucksack zu stopfen dachte er an seine erste große Tour. Wie wenig Erfahrung hatte er damals doch gehabt. Er wusste nicht, wie wichtig ein unzerstörbarer kleiner Plastikbecher war, oder wie nützlich Knicklichter auf einer solchen Expedition werden konnten.

Mittlerweile war das Packen für ihn Routine geworden. Das was danach kommen würde, das würde für ihn nie Routine werden. Das Verabschieden von seiner Frau und seinen beiden Kindern, das hasste er.

 

Während Steve die Apotheken-Gruppe bestehend aus diversen Sonnenschutzmitteln, First-Aid-Kit und Vitaminen zusammenlegte, dachte er daran wie viele Touren seit der ersten vergangen waren. Mittlerweile war er ein Profi-Bergsteiger. Er hatte zahlreiche Gipfel in den Alpen und Anden bestiegen. Doch die Höhepunkte waren eindeutig seine Besteigungen im Himalaya und Karakorum Gebirge. Mit Mount Everest, Makalu, Annapurna und Nanga Parbat hatte er einige der schwierigsten und höchsten Berge bestiegen.

Er war den Spuren von legendären Aufstiegsrouten gefolgt, und besonders stolz war er auf eine neue Route an der Südflanke der Annapurna.

 

Und doch fehlte ihm noch ein Berg. Für Laien nicht so bekannt wie der Everest, jedoch für Bergsteiger der Berg der Berge. Der K2. Mit 8611m ist der K2 der zweithöchste Berg der Welt. Er ist so etwas wie Monaco für die Formel 1, die Streif-Abfahrt für Skifahrer oder Wimbledon für Tennisspieler. Er ist deshalb so legendär, weil er eine ästhetische Pyramide ist. Von der Form her ähnelt er dem Matterhorn. Er ist jedoch fast doppelt so hoch und in seinen unvorstellbaren Umfang würden 41 Matterhörner passen. Dazu steht er recht allein, sodass keine Nebengipfel seinen Anblick verstellen. Klettertechnisch viel anspruchsvoller als der Everest, dazu in einer traumhaften Gletscherumgebung, fällt es Bergsteigern schwer, sich nicht direkt zu verlieben.

Die hohe Todesrate, sowie der Umstand, dass dieser Berg als einziger neben dem Nanga Parbat noch nie im Winter bestiegen wurde, machen ihn bis heute zu einer einzigartigen mentalen und körperlichen Herausforderung.

 

Steve träumte bereits als Kind davon diesen Berg zu besteigen, nachdem er die Bücher über die Erstbesteiger der großen Berge wie Hillary, Buhl und andere verschlungen hatte. Er hatte den im Karakorum gelegenen K2 schon zweimal versucht, war jedoch gescheitert. Beim ersten Mal war er erst kurzfristig für ein anderes Expeditionsmitglied eingesprungen. Seine Form reichte daher einfach nicht für den Gipfel. Doch diese erste Erfahrung mit diesem Berg ließ ihn nicht mehr los.

 

Schon die Anreise zum K2 ist ein Abenteuer. Zunächst geht es mit dem Flugzeug noch Bishkek in Kirgisien. Dann mit holprigen Bussen weiter nach Kashgar in China. Dort wird alles weitere für die Expedition eingekauft. Von dort geht es mit Jeeps weiter ins chinesisch-pakistanische Grenzgebiet. Nach letzten Besorgungen erfolgt dann der mehrtägige Fußmarsch zum K2. Einheimische Träger schleppen das Gepäck für die Expeditionsteilnehmer, die sich erstmal wegen der Höhe akklimatisieren müssen ins Basislager des K2.

 

Bei diesen Gedanken roch Steve bereits wieder das Abenteuer. Den Geruch der Yaks, den des Buttertees der Einheimischen oder den des Neuschnees. Währenddessen packte er die "Koch" - Gruppe bestehend aus Benzinkocher, Taschenofen, Geschirr und weiteren Utensilien ein.

 

Beim zweiten Mal scheiterte Steve am Wetter. Nach all den logistischen Planungen, finanziellen Aufwendungen, familiären Entbehrungen und dem harten Training war 200m unterhalb des Gipfels Schluss. 200m! In vielen Gebirgen war das eine Restkleinigkeit bis zum Gipfel, am K2 jedoch, zumal bei hohem Neuschnee und Sturm, eine unüberwindbare Strecke. Der Gipfel, den Augen so nah, war doch so weit entfernt wie eine andere Galaxie. Völlig entkräftet und mit Erfrierungen an den Füßen (ein Zeh musste amputiert werden) war Steve mit seinem Kletterpartner zurückgekehrt.

 

Nie war er dem Tode so nahe gewesen, seit er als Jugendlicher ein Gewitter auf einem 4000er der Rocky Mountains überstanden hatte. Er kannte Bergsteiger, die durch Blitzschlag umgekommen waren, doch er hatte Glück gehabt. Und doch wurde durch diese Erlebnisse seine Leidenschaft eher genährt als gezügelt. Er hatte Lawinenabgänge knapp überstanden, einen 30m Sturz ins Seil und weitere Dinge. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt das Risiko zu minimieren, doch ausschalten konnte er es nicht. Er wollte es aber auch nicht. Gerade dieses Risiko gab ihm das Gefühl intensiver zu leben und zu spüren als in jedem anderen Moment des Lebens.

Die ständige Anwesenheit des Todes, sorgte für ein unbeschreibliches Gefühl von Leben. Nur Extremsportler können dieses Gefühl nachvollziehen. Bergsteigen war für Steve wie eine Sucht. Er liebte es mit jeder Faser seines Herzens und war froh es beruflich betreiben zu können.

 

Doch nun war er bereit aufzuhören. Er war zwar erst 41, was für einen Bergsteiger noch längst nicht alt ist, aber die Kinder hatten seine Sicht auf die Dinge geändert. Sie sollten mit einem Vater aufwachsen. Ellen hatte ihn dagegen noch nie gebeten aufzuhören. Sie wusste: Bergsteigen war sein Leben. Er brauchte es wie die Luft zum Atmen. Doch mit den gewaltigen Hochtouren sollte nun Schluss sein. Schon jetzt ein wenig wehmütig, sah sich Steve im Keller um. Nur noch wenige Dinge waren zu packen. Er wusste, dass er so eine Ausrüstung nie wieder verstauen würde. Zumindest nicht für sich.

 

Gleichzeitig wurde der Junge wieder in ihm wach. Die Träume, die Freiheit, die Bücher... All das projizierte sich nun auf diesen einen Gipfel, den K2. Diesmal musste es klappen. Dieser Gipfel war die Krönung seiner Karriere und der Gipfel seiner Träume. Wer sagen konnte, er wäre auf dem K2 gewesen, musste nicht mehr viel über seine Bergsteigerqualitäten sagen. So wenig wie Pete Sampras oder Andre Agassi nach ihren Wimbledonsiegen erklären mussten, dass sie Tennischampions waren. Diese letzte Schlacht wollte Steve schlagen und sein Bestes geben.

 

Er nahm Karabinergurt, den fertigen Rucksack und die restlichen Sachen und brachte sie zu seinem Pickup-Truck. Er würde den Wagen am Flughafen abstellen. Ellen würde ihn später abholen, da sie Steve diesmal nicht bringen konnte. Das hieß, der Abschied war nahe. Steve ging ins Haus zurück. Er sah Ellen wie sie dem vierjährigen Landon half einen Pullover überzuziehen. Der warme Frühling wollte genutzt werden, und Landon war gerne draußen.

 

Josi krabbelte dagegen gerade in Richtung eines Stuhles, um sich daran hochzuziehen. Steve blieb beim Anblick dieser Szene stehen. Noch unbemerkt dachte er daran, wie weit doch der Weg war, vom ersten Hochziehen am Stuhl bis zur Besteigung des K2. Wieviel Mühe, Triumphe, Enttäuschungen und Comebacks hatte es doch bis zu diesem Punkt für ihn gebraucht. Doch so instinktiv wie Josi immer wieder Aufstand bis das Ziel erreicht war, so instinktiv musste er nochmal zum K2.

 

Gleichzeitig sah er die erwartungsvollen Augen von Landon. Es war gut, dass

er nach Steves Abschied direkt etwas hatte worauf er sich freuen konnte. Der Garten war sein kleines Paradies.

Und dann war da noch Ellen. Wie schön war sie doch! Ihr langes schwarzes Haar. Die Grübchen wenn sie lächelte, die gerade nicht zu sehen waren, da sie mit mildstrenger Stimme Landon aufforderte still zu sein, damit sie den Reißverschluss zuziehen konnte.

 

Nur durch Ellen war ihm sein Leben möglich gewesen. Sie musste nun den Familienbetrieb am Laufen halten und lange auf seine Hilfe verzichten. Dass sie das schon solange tat und ihm nie das Gefühl gab ein riesen Egoist zu sein, dafür liebte er sie am meisten. Sie wusste, was ihm diese Tour bedeutete, dass der K2 ihm alles bedeutete.

 

"Es ist soweit", sagte er, nachdem er sich aus dem Tagtraum gelöst hatte. "Ich muss los." Erst nahm er die kleine Josi auf den Arm. Dies war der einfachste Teil. Er küsste sie und stellte sich einen Moment vor wie groß sie wohl bei seiner Rückkehr wäre. Dann sprang ihm Landon in die Arme. "Musst du wirklich los, Dad?" "Ja, muss ich. Ich muss schließlich von den Fotos der Expedition Geld verdienen, damit Du genug zu essen hast." Wie wenig hatte im Kern diese Begründung doch mit dem wahren Grund zu tun. Ja er musste los. Aber das "Muss" war ein inneres mehr als ein äußeres. "Ich bring Dir aber wie jedes Mal etwas mit. Sei lieb und pass mir auf Mama auf kleiner Mann." Dann küsste Steve auch Landon.

 

Die Verabschiedung von Ellen war wie immer die schwerste. Auch wenn sie es nie aussprachen, so war doch beiden klar, dass es die letzte sein konnte. Auch nach hunderten Touren seit ihrer Hochzeit, war dieser Moment jedes Mal wieder unbeschreiblich intensiv. Doch Ellen blieb wie immer tapfer. Die Kinder sollten nicht merken, dass ihr Vater vielleicht nie mehr zurückkam. Sie mussten nicht mehr viel sagen. Eine letzte Umarmung, ein letzter inniger Kuss. Dann wandte sich Steve Richtung Tür. Um die Spannung des Moments zu lösen rief Ellen noch: "Bring mir bitte einen Schnellball vom Gipfel des K2 mit!" Steve lachte: "Werd‘ ich machen!". Dann ging er zum Auto.

 

 

 

Ende 1:

 

Der Gipfeltag

 

Steve wachte früh im Lager 4, in 8000m, an der Schwelle zur Todeszone auf und dachte über die vergangenen Wochen nach. Bisher war alles ziemlich glatt gelaufen. Nur einer der Träger war auf dem Weg zum Basislager gestürzt, hatte sich jedoch außer Abschürfungen und den Bruch eines Fingers zum Glück nicht ernster verletzt. Danach hatte sich seine Expedition daran gemacht 3 Hochlager einzurichten. Im Gegensatz zu den Alpen konnte man im Jahr 1983 Achttausender noch nicht im sogenannten Alpinstil bezwingen. Man richtete daher mehrere Lager verbunden mit Fixseilen ein, um dann bei einem guten Wetterfenster einen Gipfelsturm zu wagen. Die Gefahr war daher sehr hoch, da man viele Tage am Berg verbrachte.

 

Steve war mit seinem Kletterpartner Randolph, gerufen nur "Run", wegen seiner Schnelligkeit am Berg, über den Abruzzengrat bis zur Schulter hochgestiegen.

Nach einer Übernachtung in Lager 3 arbeiteten sie sich bei bewölktem aber ziemlich windstillem Wetter Stück für Stück nach Lager 4 vor. Mit diesem Lager hatten sie richtig Glück gehabt. Eine russische Expedition hatte zuvor wegen eines Schneesturms drei Tage unterhalb des Gipfels aushalten müssen, um dann völlig erschöpft abzusteigen. Doch obwohl sie wussten, dass eine amerikanische Expedition im darauf folgendem Schönwetterfenster einen Gipfelerfolg landen könnte, ließen sie Lager 4 unabgebaut stehen.

Deshalb mochte Steve russische Bergsteiger. Zum einen waren sie die Meister des Improvisierens, da sie längst nicht die Mittel der Europäer und Amerikaner hatten, zum anderen hatte er mehrfach die Erfahrung gemacht, dass der kalte Krieg für sie keine Rolle spielte. Während eher die westlichen Bergsteiger teilweise ziemliche Egoisten waren, waren die Russen weniger aus Wettbewerb, sondern aus Faszination an der Natur unterwegs. Steve mochte diese Art zu leben und zu denken.

 

Dennoch: Er wollte seinen K2 und die Russen hatten ihm viel Kraftanstrengung erspart, weil die Plackerei der Errichtung eines letzten Lagers nahe der Todeszone nun entfallen war. Und nun war es so weit. Von Lager 4 unterhalb des berüchtigten Seracs (Eisüberhangs), das im Laufe der Jahre traurige Berühmtheit erlangen und manchen Bergsteiger durch Eisabbrüche in den Tod reißen würde, würden er und Randolph durch den Bottleneck (Flaschenhals), um das Serac herum Richtung Gipfel aufsteigen. Es war der Tag der Tage.

 

Entweder würde er heute auf dem K2 stehen oder nie mehr. Randolph hatte über dem Kocher schon Schnee geschmolzen, damit genug zu trinken zur Verfügung stand. Auch wenn der Hunger in dieser Höhe nachließ nahm sich Steve einen Kraftriegel und kaute ihn unterbewusst in sich hinein. Als er das Zelt öffnete und einen wolkenlosen Himmel über sich sah, stieg das Adrenalin. Er und "Run" wollten heute den Gipfel erreichen. Zwei weitere Expeditionsteilnehmer würden von Lager 3 nach 4 aufsteigen und bei günstigem Wetter einen Tag später einen Versuch wagen.

 

Die nächsten 3 Stunden arbeiteten sie sich über die restliche Schulter durch den Bottleneck. Dieses Schneefeld, was nach oben immer schmaler wurde und daher seinen Namen hatte, war eine Schlüsselstelle, um auf den Gipfelgrad zu kommen. Die Anspannung in Steve wuchs. Das Besondere am K2 war, dass er mehr noch als andere 8000er die Tür zum Gipfel kurz vor dem Ziel zuschlug. Denn durch die steilen Gipfelrinnen sammelte sich Neuschnee. Wie es Steve schon einmal passiert war, konnte diese Neuschneedecke so tief und lose sein, dass man bis zur Brust einsank. Ein Weiterkommen war dann nicht mehr möglich. Steve hatte die Sorge, dass nach dem Schneesturm die Verhältnisse ähnlich schlecht sein könnten. Den Gipfel nur 200m - 300m entfernt vor Augen musste man sich dann 10 Std. lang zum Gipfel durcharbeiten, sofern es überhaupt möglich war. Über sich dabei für eine lange Zeit das Serac, unter sich ein gähnender Abgrund, war diese Strecke auch mental mit das Schwerste was Bergsteigern passieren konnte.

 

Für Nicht - Bergsteiger hatte er mehr als einmal erklären müssen, warum dies alles mit den Alpen oder selbst Anden nicht zu vergleichen war. Nicht umsonst trug die Zone oberhalb 8000m den Namen Todeszone. Während man sich an 6.000 und 7.000m noch anpassen und sich in solcher Höhe durch gezieltes Training dauerhaft aufhalten kann, ist der Sauerstoffgehalt spätestens über 8.000m so arm und die Luft so dünn, dass man anfängt zu sterben. Nach maximal fünf eher innerhalb von zwei bis drei Tagen stirbt man auf jeden Fall. Dazu kommt der mentale Druck, dass bei Unfällen keine Rettung möglich ist. Weder haben andere Bergsteiger in dieser Höhe die Kraft Jemanden zu schleppen, höchstens etwas ziehen ist möglich und auch das nur sehr begrenzt, noch kann ein Hubschrauber in diese Höhe fliegen.

 

Die Regel ist daher: Wenn jemand innerhalb einer Stunde nicht selbständig aufstehen kann, dann lass ihn liegen und rette dich selbst. Die Lungen nehmen in dieser Höhe nur 1/3 des gewöhnlichen Maßes an Sauerstoff auf. Viele erkranken an der Höhenkrankheit. Die Lungen laufen voll Wasser und man erstickt.

Steve wusste das alles. Er wusste, dass mehr Menschen auf dem Mond als auf dem K2 gestanden haben. Viele Bergsteiger nahmen daher Sauerstoffflaschen mit um den Gipfel zu erreichen. Doch Steve und Randolph waren sich einig, dass dies nicht ihrem Maßstab entsprach. Biologisch war es schummeln, da man den Gipfel durch die Sauerstoffmaske quasi um 400m und mehr nach unten verlegte. Es erschien ihnen nicht fair. Sie wollten einen ehrlichen Gipfelerfolg.

 

Oberhalb des Bottleneck angekommen arbeiteten sich die beiden Richtung Gipfel - Grad vor. Mit jedem Schritt wich die mentale Anspannung ein wenig. Der Schnee war offensichtlich gefestigt genug. Dennoch war er so lose, dass sie noch mindestens 4 Stunden zum Gipfel brauchen würden. Doch gemessen an anderen Expeditionen war es machbar.

 

Nach weiteren 2 Stunden war sich Steve nicht mehr so sicher ob er es packen würde. Die körperliche Anstrengung war atemberaubend, wodurch auch seine innerliche Anspannung wieder stieg. Durch den Druck fühlte sich der Körper wie in einem Schraubstock an. In seinem Kopf hämmerte es. Er schnappte nach Luft. So musste sich sein Großvater vorgekommen sein, wenn er ihn als Enkel manchmal überredet hatte mit ihm auf den Hausberg seiner Heimatstadt zu wandern. Jeder Schritt war langsam und bedächtig. Er ging wie in Zeitlupe.

 

Was ihn nur etwas beruhigte war, dass es "Run" nicht anders erging. Noch eine Stunde. Der Gipfel war zum Greifen nah. Doch jeder Schritt wurde zum Kilometer und jede Minute zur Stunde. Durch den Sauerstoffmangel verlangsamten sich auch die Denkprozesse. Über 8000m ist man in gewisser Weise wie geistig behindert oder angetrunken. Trotzdem ist es schwierig, dass bisschen Denkmaschine was einem noch bleibt für die volle Konzentration zu verwenden. Steve fing mehr und mehr an zu phantasieren. Wirklichkeit und Gedanken verschwammen. Geschichten von Bergsteigern die 30m unterhalb des Gipfels aufgeben mussten schossen ihm durch den Kopf.

 

Was ihm Halt gab war "Run." Er dachte an Reinhold Messner, der 3 Jahre zuvor den Everest solo bestiegen hatte. Wie einsam er sich gefühlt haben musste auf so einem Berg ganz alleine unterwegs zu sein. Er und "Run" konnten sich beim Spuren abwechseln. Nein, ihm würde das nicht passieren, er würde nicht vor Landon stehen und sagen müssen: "Dein Papa ist 30m unterhalb des Gipfels umgekehrt."

Steve mobilisierte nochmal alle Kräfte und plötzlich, ganz unmerklich wurde der Boden ebener. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchlief seinen Körper. Der Gipfel nur noch 10m entfernt. Steve und "Run" lagen sich in den Armen. Sie wussten sie hatten es geschafft!

 

Viel zu lange, fast eine Stunde, waren sie auf dem Gipfel geblieben. Das Wetter war traumhaft klar. Besonders beeindruckt hatte Steve der Schatten des K2. Er bildete ein Dreieck was weit, in die Ebenen und Berge des Karakorums hineinzeigte. K2-Bezwinger Steve Palmer. Er konnte es immer noch nicht glauben. Das Triumphgefühl gab ihm noch Kraft, doch er wusste, die Müdigkeit würde kommen.

 

Steve wunderte sich selbst wie schnell er in den Profi-Modus wechselte. Er wusste, das Kind und der Abenteurer in ihm brachten ihn auf die Gipfel. Doch der Profi, der erwachsene und besonnene Steve Palmer war es, der wieder herunterkam. Ihm war bewusst, dass wesentlich mehr 8.000er Besteiger auf der Rückkehr vom Gipfel ums Leben kamen als auf dem Weg zum Gipfel. Anders als in anderen Gebirgen war der Gipfel nur die Hälfte des Weges, vielleicht sogar weniger. Die körperliche Erschöpfung, die mentale Entlastung durch den errungen Erfolg und die später werdende Tageszeit nach kurzen Nächten machten den Abstieg fast noch schwerer als den Aufstieg.

 

Nur ein Fehltritt mit der Folge eines Bänderrisses oder gebrochenen Beines wäre das sichere Ende. Selbst "Run" hätte nicht mehr die Kraft ihn wieder ins Lager 4 zu bringen. Er konzentrierte sich. Schritt für Schritt ging es dem Tal entgegen.

 

Weitere zwei Stunden später sahen sie unter sich 2 gelbe Dreiecke. Wie falsche Farbtupfer auf einem Schwarzweißbild. Eine weitere halbe Stunde später konnten sie schon die Zeltumrisse erkennen. Weiter unten sahen sie ihre Kameraden als grünen und blauen Punkt, die sich Richtung Lager 4 hocharbeiteten für den Gipfelgang am nächsten Tag.

 

Dies war der Augenblick indem sich Steve an diesem Tag das erste Mal richtig entspannte. Er wusste nun, der schwierigste Teil der Expedition war fast geschafft. Der morgige Abstieg wäre zum größten Teil schon unterhalb der Todeszone. Immer noch gefährlich, aber längst nicht zu vergleichen mit dem Husarenstück des heutigen Tages. Er atmete durch und erlaubte seinen Gedanken auf Wanderschaft zu gehen.

Noch einmal sah den Jungen der zum ersten Mal eine Hochtour außerhalb der Wanderwege ging. Den Jugendlichen, der mit einem Triumphruf eine Kletterei im 6. Grad in einer Dolomitenwand beendete. Er erinnerte sich an seine großen Triumphe an Everest und Annapurna.

 

Dann wanderten seine Gedanken nach Hause. Weit weg und 40 Grad wärmer als hier verbrachte seine Familie einen wunderschönen Frühling und nächstes Jahr, das wusste er, würde er dabei sein. Er konnte sich glücklich schätzen so ein Leben bisher gehabt zu haben. Ja er hatte seinen Traum gelebt.

Was würde nun die Zukunft bringen? Das nächste Jahr würde er noch mit Vorträgen über seine bisherigen Expeditionen verbringen. Es war gut um diese abschließend zu verarbeiten. Was dann kam, darüber konnte er sich zu Hause Gedanken machen. Alles was jetzt zählte waren die letzten Kletterminuten Richtung Zelt, eine heiße Tasse Tee und ein windgeschütztes Zelt.

 

Ein dumpfes Geräusch holte ihn zurück in die Gegenwart. Augenblicklich war Steve voll da. Er nahm an, Randolph wäre gestürzt und rutschte auf ihn zu. Instinktiv ließ er sich fallen und rammte den Eispickel mit aller Kraft in die Erde um den Sturz des Kameraden zu verhindern. Dann merkte er, dass das Geräusch doch weiter weg war und lauter wurde. Das konnte nicht "Run" sein, er wäre längst an ihm vorbei gerutscht. Obwohl man bei Steinschlag nicht nach oben schauen sollte, wagte Steve auf dem Boden liegend einen Blick Richtung Gipfel. Als er die große weiße Schneewand sah, die in rasender Geschwindigkeit auf ihn zukam, wusste er, dass es für ihn keine Zukunft geben würde.

 

 

Wie so viele Bergsteigerfrauen hatte Ellen eine Vorahnung. Dennoch war sie wie betäubt als die Nachricht von Steves Tod kam. Jahre hatte sie gewusst dass so etwas passieren konnte. Alles war vorbereitet: Testament, Versicherungen, die Korrespondenz an die wichtigsten Sponsoren. Schon lange hatten sie psychologische Betreuung die jetzt unterstützen konnte.

 

Doch niemand konnte einen auf die Emotionen vorbereiten, die Trauer, die Tränen, die Tag für Tag größer werdende Leere. Und vor allem. Wie sollte man zwei kleinen Kindern erklären, dass ihr Dad nie mehr zurückkam. Das, mehr als alles andere, zerriss ihr Herz.

Und ihre Gefühle für Steve? Sie empfand keinen Groll, keine Reue. Sie hatte ihn geliebt, weil er war wie er war. Zielstrebig, außergewöhnlich, ein Kämpfer mit großem Herz. Sie hatte gewusst, auf was sie sich einließ als sie ihn heiratete und als sie beschlossen Kinder zu kriegen. Ihre Beziehung war eine Gratwanderung, genau wie Steves Beruf.

 

Nun war der Traum gekippt in eine Tragödie. Sie würde stark sein. Für die Kinder und für Steve. Es würde ein langer Weg werden. Zementiert mit Vorwürfen von anderen, die nicht verstanden, was der K2 für Steve bedeutet hatte. Was sie ein wenig tröstete und ihnen keiner nehmen konnte: Er hatte den Gipfel erreicht. Sie würde sich öfter mit Jennifer treffen, Randolphs Frau. Im gemeinsamen Austausch über das Leid und im gegenseitigen Helfen bei der Kinderbetreuung wäre eine erste kleine Stütze gefunden.

 

Sie fiel, aber sie fiel nicht ins Bodenlose. Dennoch, ein Leben ohne Steve - kaum vorstellbar. Warum musste das ausgerechnet am letzten großen Berg passieren? Fragen über Fragen. Ellen schaute durch den Tränenschleier auf die Todesanzeige vor ihr. Die Tränen hatten den Druck schon etwas verschmiert doch noch lesbar blieb ihr Blick an den Sätzen hängen: Steve hatte das Glück an einem Ort und bei einer Tätigkeit zu sterben die er tief liebte. Ein kurzes, aber intensives Leben ging viel zu früh zu Ende, doch seine größten Träume wurden erfüllt.

Wieviel von ihr selbst am K2 gestorben war, das konnte sie in diesem Augenblick nur erahnen.

 

 

 

Ende 2:

 

Steve setzte den Pickup in Bewegung. Zunächst die kurvenreiche Straße bis zum Highway entlang, dann im typischen amerikanischem Tempomat - Geradeaus Richtung Denver Airport. Der Verkehr war dicht, aber fließend. Ein entspanntes Fahren. Rechts flogen die überdimensionalen Werbeschilder vorbei. Lächelnde Gesichter warben für Schönheitsprodukte, Nationalparks und Einkaufszentren. Dann plötzlich eine ekelhaft ergraute Lunge mit dem Satz: "Rauchen gefährdet ihre Gesundheit."

 

Steve hatte als Leistungssportler nie geraucht. Ausgenommen natürlich die üblichen Jungenexperimente zu High-School-Zeiten. Er kannte Freunde die wegen ihrer Kinder und Frauen mit dem Rauchen aufgehört hatten. Seine Gedanken wanderten zum K2. Dort stand kein Schild: "Das Besteigen dieses Berges kann tödlich sein." Dabei war die Todesrate und Geschwindigkeit zu Sterben deutlich höher als die der Raucher. Aber er war nicht bereit, mit dem Extrem-Bergsteigen für Frau und Kinder aufzuhören.

 

Plötzlich kam ihm wieder die Szene des Abschieds in Erinnerung. Josi, Landon, Ellen. Ellen - was war sie alles bereit gewesen für ihn aufzugeben. Monatelang hatte sie während der Expeditionen auf ihn verzichtet. Von den Trainingswochenenden ganz zu Schweigen. Wie wenig hatte sie darüber geklagt. Sie musste ihn wirklich lieben, ihn jetzt wieder ziehen zu lassen. Andere Leistungssportler hörten Ende 30 auf, eher früher. Doch er wollte mit 41 noch immer ins Abenteuer ziehen, und das obwohl er dabei sogar sein Leben riskierte.

 

Was hatte er dagegen für Ellen getan? Im Vergleich dazu lächerlich wenig. Und plötzlich sah Steve klar. Es war, als wenn jemand nach langer Zeit einen Schleier von seinem geistigen Auge entfernt hätte. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder diesen letzten, größten Lebenstraum verwirklichen - oder diesen zu opfern für die Liebe seines Lebens. Nie wieder würde er, wenn er den Gipfel erreichte, die Möglichkeit haben Ellen seine Liebe in einer solch gewaltigen Art zu zeigen. Durch den Verzicht auf "seinen" Berg, den K2. Was war eine Hochzeit, ein Ring, ein Treueschwur alles gegen eine solche Tat? Und sie hatte es verdient.

 

Doch was hätte das für Folgen? Wenn er jetzt aussteigen würde, würde er wohl nie mehr die Gelegenheit bekommen den K2 zu bezwingen. Es würde sich in Expeditions- und Sponsorenkreisen herumsprechen: Steve, der große Bergsteiger war ausgestiegen und das einen Tag vor Expeditionsstart! Das würde dazu führen, dass man nicht mehr an seinen unbedingten Willen glaubte. Und sie hätten Recht.

 

Oder - was wäre wenn er und Ellen sich doch einmal zerstreiten würden. Z. B. mit 70. Viele Ehen gingen im hohen Alter kaputt. Was, wenn sie ihn betrügen würde und er hätte dann auf seinen Traum verzichtet. Er erschrak. Es war unfair so etwas zu denken - und doch ganz abschütteln konnte er den Gedanken nicht.

 

Steve stand vor der schwersten Entscheidung seines Lebens. Er hatte viele schwerwiegende Entscheidungen zu treffen gehabt. Wie am Nanga Parbat, als sie trotz Schlechtwetters nicht abstiegen, sondern 2 Tage in der Todeszone festsaßen, um dann am dritten bei strahlendem Wetter den Gipfel zu erreichen. Wie am Aconcagua, wo er allein zurückkehren musste und den Gipfel nicht erreichte, da er sich eine Lebensmittelvergiftung zugezogen hatte. Es gab hundertfach Situationen, in denen er schnell oder langsam entscheiden musste. Viele Entscheidungen hatten eine große Tragweite. Noch 4 Stunden bis zum Abflug. Steve dachte alles durch, dann fragte er sein Herz.

 

Zwanzig Kilometer weiter war ein Kreisverkehr. Als Steve den Kreisverkehr verlassen hatte war hinter ihm der Denver Airport und vor ihm das Wiedersehen mit den Menschen die er mehr als jedes Abenteuer liebte. Er sollte diese Entscheidung nie bereuen.

 

 

 

Nachtrag zu Ende 2:

 

Im Jahr 2004 quälte sich eine Frau Richtung Gipfel des K2. In Kürze würde sie nicht nur die jüngste Frau auf dem K2 sein, sondern auch die erste, die es im Alpinstil schaffen würde. Ohne Sauerstoff, ohne Hochlager und ohne Fixseile. Ein kleines Stück Bergsteigergeschichte. Der mangelnde Sauerstoff und die große Anstrengung ließen ihr Gehirn teilweise phantasieren. Sie wusste, dass es so kommen würde. Sie war von ihrem Vater bestens vorbereitet worden. Doch im Jahr 2001, war er an Krebs gestorben. Sie vermisste ihn. Als Lehrer, Seilpartner, Spaßmacher - eben als den besten Dad der Welt.

 

Auch für ihn hatte sie dieses Projekt in Angriff genommen, welches nun drei Jahre später fast beendet war. Völlig außer Atem auf dem Gipfel angekommen schaute sich die junge Frau um. Es war eine gigantische Aussicht. Benachbart weitere 8000er Gipfel, weit weit unter sich die riesigen Gletscher und Kleingipfel des Karakorum. Doch was sie am meisten beeindruckte war der riesige Schatten des K2. Unfassbar! Sie stand nun auf dem Gipfel dieses Fels-Monstrums, welches doch gleichzeitig so formschön war wie ein Kristall. Und für einen Moment schien es ihr, als würde auf dem Gipfel des Schattens ein Mann stehen und ihr zuwinken: Dad!

 

Dann schimpfte die junge Bergsteigerin mit sich selbst: "Du fängst an zu spinnen! Der fehlende Sauerstoff macht dir zu schaffen." Gleichzeitig fühlte sie eine Träne übers Gesicht laufen. Doch dann riss sie sich zusammen, denn sie wusste: Das Kind und die Abenteurerin in ihr brachte sie auf den Gipfel, aber die Profi-Bergsteigerin brachte sie wieder hinunter. Sie machte noch ein paar Fotos und sah sich ein letztes Mal um. Sie hoffte auf noch viele weitere solcher Gipfelerfahrungen. Doch genauso freute sie sich nun erstmal auf zu Hause.

 

Das Panorama ein letztes Mal aufsaugend, machte sie sich an den Abstieg. Dabei lächelte sie in sich hinein und dachte: "Josephine Palmer - K2-Besteigerin. Gar nicht mal so schlecht."


Avatar Words

Geschrieben von Words [Profil] am 26.01.2016

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Tags (Schlagwörter):

Liebe, Romantik, Verantwortung, Bergsteigen, K2, Kurzgeschichte

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Kommentare und Punkte zu diesem Gedicht

 EliFrosch 28.04.2016, 15:30:10  
Avatar kein BildGefällt mirwkrklich gut :)

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